Montag, 22. November 2010

Neue AKW in Finanzklemme

In der Schweiz sollen neue AKW gebaut werden. Investoren und Experten sehen die Nuklearenergie jedoch zunehmend als finanzielles Risiko, wie die Sonntags-Zeitung berichtet.

Bis vor kurzem sah es nach einer Renaissance der Atomenergie aus. 400 neue Meiler sollen bis 2030 weltweit gebaut werden, sagte Siemens-Chef Peter Löscher vor einem Jahr. Doch wirklich Aufwind hat die Industrie nur in China, Indien und Korea. Dort wird die Atomkraft systematisch ausgebaut. Im Westen ist sie im Rückgang. Heute sind weltweit 436 Atomreaktoren in Betrieb, acht weniger als 2002. 48 AKW sind «in Bau», 13 davon schon seit 20 Jahren.

Der Grund für die Flaute: Investoren und Energiekonzerne trauen den Gewinnaussichten immer weniger. Bauernsohn John Rowe, CEO von Exelon, einem der grössten US-Energiekonzerne mit 17 AKW, formuliert es nüchtern: «Mein Vater hielt es mit seinen Kühen wie ich mit den Kernkraftwerken. Sie sind ein Geschäft und keine Passion.» 2008 ging Rowe davon aus, dass Investitionen in neue Reaktoren zwar teuer, aber gewinnbringend seien. Heute rechnet er anders: «Wegen des tiefen Erdgaspreises sehen neue AKW in der Analyse extrem teuer aus. Deshalb haben wir unsere Pläne für ein AKW in Texas zurückgestellt», sagte Rowe kürzlich an einer Tagung des US-Hauseigentümerverbandes.

Dasselbe hat der Staat Ontario in Kanada vor einem Jahr getan. Umweltminister George Smitherman hat das Projekt für zwei neue Reaktoren sistiert. Ontario hätte 26 Milliarden Franken bezahlen müssen. «Der Preis ist um Milliarden zu hoch», so der Umweltminister. Die Notbremse gezogen hat vor einem Monat auch der US-Konzern Constellation Energy. Er wollte in Maryland drei neue Reaktoren aufstellen. Zu teuer, entschied der Konzern nun zur Überraschung aller. Immerhin hatte die Obama-Administration für das Projekt 7,5 Milliarden Dollar Kreditgarantien gesprochen. Die «Washington Post» schrieb von einem harten Schlag für die viel beschworene Renaissance der Atomenergie: «Die hohen Baukosten bringen selbst Giganten wie Constellation ans Limit.» Hart ist die Entscheidung auch für den französischen Stromkonzern Electricité de France (EDF), der die Reaktoren hätte bauen sollen. «Wir sind enttäuscht und schockiert», so EDF.

Schlechte Nachrichten auch aus Europa: Der grösste tschechische Elektrizitätskonzern CEZ hat vor drei Wochen seine Pläne für zwei neue Reaktoren in Temelin vorläufig schubladisiert. «Wir sind nicht mehr die Lieblinge des Finanzmarktes. Wir erhielten kürzlich erste negative Signale der Ratingagenturen», zitiert «Bloomberg News» eine anonyme Quelle im Konzern. Die Ratingagentur Moody's hat ihre Einschätzung der Atomindustrie in einer Studie bereits 2009 revidiert: «Moodys erwägt, jene Konzerne, die neue AKW planen, negativ zu bewerten. Auch Analysten der Grossbank Citigroup empfehlen Investitionen in neue AKW nur, wenn der Staat weitreichende Kreditgarantien übernimmt. Die finanziellen Risiken seien sonst zu gross.

Staatliche Kreditgarantien für neue AKW gibt es in der Schweiz nicht. Die Energiekonzerne müssen rund 60 Prozent der 8 bis 10 Milliarden Franken pro Werk auf dem internationalen Finanzmarkt beschaffen. Ein schwieriges Un- terfangen, meint der Schweizer Finanzexperte Kaspar Müller: «Kernkraftwerke sind aufgrund der heute verfügbaren Informationen ohne staatliche Unterstützung nicht kapitalmarktfähig und somit auch nicht in der Lage, in einem subventionsfreien Markt zu bestehen.» Müller ist unter anderem Präsident der Stiftung Ethos. Auch der ETH-Professor Massimo Filippini ist skeptisch: «Läuft die Marktöffnung in der Schweiz nach Plan, können ab 2014 nicht nur die Grossverbraucher, sondern auch die Haushalte ihre Lieferanten frei wählen.» Das verstärke das finanzielle Risiko von Investitionen in Atomstrom, denn die alternativen Energien würden kontinuierlich wettbewerbsfähiger.

Kurt Rohrbach, CEO des Energiekonzerns BKW, widerspricht: Die Finanzierung zweier neuer AKW in der Schweiz sei «kein Spaziergang», aber möglich (siehe Seite 15). Die Grossbanken CS und UBS halten sich mit Einschätzungen zurück. Sie wollen erst den AKW-Volksentscheid abwarten. «Erst dann wird es möglich, sich mit Finanzierungsfragen auseinanderzusetzen», sagt UBS-Spre- cher Andreas Kern. Ein Hauptproblem sind die langen Zeiträume. Ein neues AKW würde nach 40 Jahren Laufzeit schwarze Zahlen schreiben, sagte Giovanni Leonardi, Chef der Gösgen-Besitzerin Alpiq, kürzlich an der ETH Zürich. Ein neues AKW käme frühestens 2025 ans Netz. Gewinn brächte es ab 2065 - in 55 Jahren. Experten wagen aber nicht einmal vorauszusagen, wie der Markt 2020 aussehen wird.

Die Internationale Energieagentur (IEA) hat berechnet, dass in den nächsten 20 Jahren weltweit 2Billionen Franken in Kraftwerke investiert werden müssen - das sind 100 Milliarden Franken pro Jahr. «Es entsteht eine ganz neue Energiewelt», sagte Josef Auer im Frühling in der Zeitung «Die Zeit». Auer ist bei der Deutschen Bank für die Analyse der Trends in der Energiewirtschaft zuständig. Das viele Geld werde kaum noch in die Wahrzeichen der alten Welt gesteckt werden, also in Schornsteine und Kühltürme. Nach IEA-Szenarien werden vier Fünftel der künftigen Investitionen in Ökostrom aus Wind- und Sonnenenergie sowie neue Stromnetze fliessen.

Die Entwicklung hat bereits eingesetzt: In der ersten Hälfte dieses Jahres wurden weltweit Windenergiekapazitäten in der Höhe von 16 Gigawatt installiert. Das entspricht zwölf grossen, neuen AKW (Anmerkung Atominfomedia: Das stimmt so nicht, weil Windräder nicht dauernd in Betrieb stehen, entsprechen 16 GW Windkapazitäten etwa 5 grossen AKW). Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt schätzt, dass in 20 Jahren die Offshore-Windparks in der Nordsee die grösste Energiequelle Deutschlands sein werden. Selbst der bisher horrend teure Solarstrom wird konkurrenzfähiger. Der Bau neuer AKW dagegen wird ständig teurer - um jährlich 15 Prozent, wie Forscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT) berechnet haben.

Investoren dürfte ein weiterer Befund der MIT-Forscher interessieren. Die jetzigen Reaktortypen seien unausgereift, meinen sie, es brauche massiv mehr Forschung. Die Wissenschafter sehen Möglichkeiten für effizientere Reaktoren, eine solche Reaktor-Generation wäre frühestens 2030 baufähig. Sie soll den Brennstoff effizienter nutzen und die Menge der langlebigen Bestandteile im hochaktiven Abfall reduzieren - ein Plus für die spätere Atommüll-Entsorgung.

Die jetzt baufähige Generation - z. B. der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) - steckt in der Krise. Der EPR wird zurzeit von den französischen Firmen Areva und EDF (die an Alpiq beteiligt ist) im finnischen Olkiluoto und im französischen Flammanville gebaut. Diese Vorzeigeprojekte sind bisher ein Reinfall. In Finnland betragen die Kostenüberschreitungen 77 Prozent. An beiden Orten sind sicherheitsrelevante technische Probleme ungelöst.

Steve Thomas von der Londoner Greenwich-Universität zieht den Schluss: «Der einzige richtige Weg für Areva und Electricité de France scheint klar: Um ihre Verluste zu minimieren, müssten sie das Projekt EPR abbrechen», schreibt der Ökonom in einer neuen Studie. Atomstrom aus einem EPR sei viel zu teuer. «Es ist unwahrscheinlich, dass sich ein Energiekonzern dies leisten kann, ausser er erhält immense staatliche Subventionen und könnte alle Risiken auf die Konsumenten abwälzen.»

Der EPR ist auch für die Schweiz die wahrscheinlichste Option. Hierzulande gehören die Energiekonzerne mehrheitlich den Kantonen. Dies kommt einer Staatsgarantie gleich - das Risiko tragen am Schluss die Steuerzahler.

Quelle: Sonntagszeitung 21.11.2010 / Catherine Boss

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