Die russische Atomanlage Majak ist vor allem wegen des katastrophalen Unfalls von 1957 bekannt. Auch heute, klagen Umweltschützer, komme es dort regelmässig zu Zwischenfällen. Sie fordern, dass westliche Staaten die Anlage boykottieren. Auszüge aus einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung vom 19. November 2010.
Die Gegend um Majak ist eines der am stärksten radioaktiv verstrahlten Gebiete der Welt. Die Plutoniumfabrik Majak (zu Deutsch: Leuchtturm) zwischen den heutigen Millionenstädten Tscheljabinsk und Jekaterinburg wurde in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg regelrecht aus dem Boden gestampft. Ohne die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen produzierten dort Tausende Arbeiter, unter ihnen viele Frauen, das Material für Stalins Atombomben. Von Beginn an wurden flüssige radioaktive Abfälle in die umliegenden Gewässer, auch in den Fluss Tetscha, geleitet (im Bild die Sperrzone um die Plutioniumfabrik - Foto: Greenpeace).
Im September 1957 kam es auf dem Gelände zum bis dahin grössten Unfall der Geschichte in einer kerntechnischen Anlage. Ein Betontank mit hochradioaktiver Flüssigkeit explodierte. Sein Kühlsystem war ausgefallen, ein schadhaftes Kontrollgerät hatte nicht rechtzeitig vor der Katastrophe gewarnt. Die freigesetzte radioaktive Wolke stieg in bis zu 1000 Meter Höhe und verseuchte einen etwa 8 Kilometer breiten und 110 Kilometer langen Streifen Land östlich des Betriebsgeländes.
Auf Waldboden und Äckern verblieben Strontium-90, ein Radionuklid, das sich in Knochen und Zähnen des Menschen einlagert, und Cäsium-137, ein radioaktives Isotop mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren. Die Bewohner der umliegenden Dörfer und Siedlungen, die ohnehin jahrelang radioaktiv verseuchtes Wasser getrunken hatten, wurden, wenn auch nicht unbedingt systematisch, umgesiedelt. Bis in die siebziger Jahre hinein konnte die Sowjetunion den Fall vertuschen, offiziell wurde er erst 1989 bekanntgemacht. Das Gebiet, einschliesslich der 80 000-Einwohner-Stadt Osjorsk, in der vor allem die Mitarbeiter der Anlage leben, ist bis heute geschlossen und nur mit einer Sondergenehmigung zugänglich.
Trotz dem Zwischenfall läuft die Anlage Majak bis heute fast ohne Unterbrechung weiter. Auf dem Höhepunkt arbeiteten dort 25 000 Menschen an zehn Reaktoren. Heute sind noch zwei Reaktoren in Betrieb. Majak produziert Isotope für Medizin und Wissenschaft, vor allem aber werden dort abgebrannte Brennstäbe und Atommüll aufbereitet. Länder wie die Ukraine, Bulgarien und Ungarn exportieren ihren Atommüll in den Ural.
Im September hatte der Schweizer Energiekonzern Axpo erklärt, dass ein Teil des Urans in den Brennstäben für Schweizer Atomkraftwerke ebenfalls aus den russischen Wiederaufbereitungsanlagen in Majak stammt. Axpo verteidigte sich gegen Kritik mit dem Argument, dass die russische Aufbereitungsanlage «heute internationale Umweltstandards erfüllt». Umweltorganisationen wie Greenpeace und auch örtliche Organisationen aus Tscheljabinsk sind hingegen davon überzeugt, dass weiterhin flüssiger radioaktiver Restmüll aus der Aufbereitung in den Fluss Tetscha eingeleitet werde. «Bis zu fünf Millionen Kubikmeter solchen flüssigen Mülles werden jährlich eingeleitet», sagt Wladimir Tschuprow, Energieexperte von Greenpeace Russland. Wissenschafter hätten nachgewiesen, dass die Radioaktivität im Fluss seit 2001 angestiegen sei.
Die Technik der Anlage entspreche zwar im Grunde westlichen Standards, so der Umweltschützer, es fehle aber an der Sorgfalt der Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen. So komme es regelmässig zu Zwischenfällen, bei denen radioaktiver Müll austrete. Im Jahr 2000 sei das Werk nur knapp einem Unglück entronnen. Wegen eines Stromausfalls in der gesamten Anlage setzte die Kühlung aus. Erst nach 25 Minuten sei es den Technikern gelungen, den Dieselgenerator für solche Notfälle in Gang zu setzen. «Hätte es zehn Minuten länger gedauert, hätte sich das Unglück von 1957 wiederholt», sagt Tschuprow.
Die Leiterin der Tschaljabinsker Organisation Bewegung für Atomsicherheit, Natalja Mironowa, beklagt die unzumutbaren Lebensumstände der Anwohner. Viele lebten in den verstrahlten Regionen und nähmen regelmässig verseuchte Lebensmittel zu sich. Im Jahr 2008, so die Umweltschützerin, hätten die Neuerkrankungen an Krebs bei Kindern um 64 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Staaten, die gleichwohl ihren Atommüll dorthin exportierten, so ist Mironowa überzeugt, trügen eine moralische Verantwortung.
Umweltorganisationen fordern die sofortige Schliessung der Anlage in Majak. Auch in Deutschland hatten Opposition und Atomkraftgegner die Ausführung der Castoren nach Russland als billige Lösung auf Kosten der Sicherheit kritisiert. Die Bundesregierung teilte daraufhin mit, die Sicherheitsvorkehrungen an Ort und Stelle selbst noch einmal gründlich prüfen zu wollen. Der Physiker Peter Jacob vom Helmholtz-Zentrum München teilt die Sorge der russischen Umweltaktivisten nicht ganz. Er hat in einer Langzeitstudie die Spätschäden der Strahlenbelastung in den fünfziger und sechziger Jahren untersucht und zu diesem Zweck die Gesundheitsdaten von 30 000 Einwohnern von 41 Orten entlang des Flusses Tetscha ausgewertet. Bis zum Jahr 2003 wurden bei ihnen insgesamt 2000 Fälle von Krebserkrankungen diagnostiziert. Auf die Strahlenbelastung waren 50 Fälle zurückzuführen. Die heutige Belastung sei mit der früheren nicht zu vergleichen. «Ich gehe davon aus, dass die Exposition für die Anwohner heute gering ist», sagt Jacob. Auch für die Arbeiter gälten heute dieselben Grenzwerte wie in Westeuropa.
Die Atomkraftgegner aus Tscheljabinsk allerdings fürchten, dass die Castoren aus Deutschland nur ein erster Versuchsballon sein sollen und dass Majak demnächst zur atomaren Müllkippe Europas werden könnte. Bis anhin ist es in Russland gesetzlich verboten, radioaktive Abfälle aus dem Ausland zu importieren. Diese Bestimmung umgeht die russische Atomenergiebehörde, indem sie die Abfälle als wertvollen Rohstoff deklariert und für einen symbolischen Preis einkauft. In Bezug auf den Umgang mit Atommüll ist die Gesetzeslage widersprüchlich und unklar. Derzeit berät das russische Parlament, die Duma, über einen Gesetzentwurf zur Handhabung von Atommüll, welcher der russischen Atombehörde Rosatom freie Hand für Import und Endlagerung gäbe. Da das Problem der Endlagerung von abgebrannten atomaren Brennstoffen in keinem Land der Welt gelöst sei, so Umweltschützerin Mironowa, seien auf Kosten der Bevölkerung rund um Majak grosse Geschäfte zu machen.
Quelle: NZZ
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