Atomkraft - nein danke. Diese Auffassung teilt mittlerweile anscheinend auch Umweltminister Röttgen und entfacht eine neue Debatte. Dabei gibt es auch einen interessanten ökonomischen Aspekt. Immer mehr Investmentbanker winken beim Thema Kernkraft ab: Die Meiler sind zu teuer. Eine Analyse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ.
Der Bau des einstigen Referenzprojekts Olkiluoto 3 wächst sich zu einem finanziellen Desaster ausLänger als geplant: Der Bau des einstigen Referenzprojekts Olkiluoto 3 wächst sich zu einem finanziellen Desaster aus. Als Finnland sich entschloss, ein Kernkraftwerk der neuen Generation auf einer Insel namens Olkiluoto zu errichten, spürte die Atomindustrie frischen Mut. Jahrelang war man in der Defensive gewesen, belagert von Kernkraftgegnern, die Betriebsunterbrechungen zu Störfällen aufbauschten und die Öffentlichkeit erfolgreich verunsicherten.
Dann kam die Angst vor dem Klimawandel, und die Welt rief nach sauberer CO2-freier Energie. Die Atomindustrie konnte liefern, selbst Anhänger grüner Parteien (zumindest außerhalb Deutschlands) erwärmten sich für die Idee der Kernkraft. Nie standen die Zeichen für eine Renaissance der Reaktoren besser. Und Olkiluoto 3, das größte Kraftwerk der Welt, hätte das betonierte Symbol eines einzigartigen Comebacks werden sollen. Alles war gut bis zu dem Tag, an dem klar wurde, dass sich das Referenzprojekt Olkiluoto 3 zu einem finanziellen Desaster auswächst. Das Kraftwerk wird wahrscheinlich doppelt so teuer wie geplant. Es sollte drei Milliarden kosten, jetzt sind schon mindestens 5,3 Milliarden Euro im Gespräch. Und die Fertigstellung verzögert sich um einige Jahre. Bei einem Projekt wie in Finnland kostet jeder verlorene Tag Millionen Euro, dazu kommen die entgangenen Stromerlöse.
Probleme werden inzwischen auch vom neuen Atomkraftwerk im nordfranzösischen Flamanville gemeldet, das nach Informationen der französischen Tageszeitung „Le Figaro“ frühestens 2014 statt 2012 Strom produzieren wird - mit gravierenden Folgen für die Kalkulation. Die Bauverzögerungen verderben den beteiligten Firmen wie Areva und Siemens die Bilanzen, die Münchner allein haben rund eine halbe Milliarde für den finnischen Meiler zurückgestellt. Gravierender noch ist, dass die Fehlkalulationen die AKW-Planer zwingen, neu zu rechnen. Das zeigt das Beispiel Großbritannien. Neben Finnland waren die Britischen Inseln zum zweiten Sehnsuchtsort der Atomindustrie geworden. Zehn neue Reaktoren wünscht sich die britische Regierung immer noch, um eine Versorgungskrise abzuwenden und ihr Versprechen zur CO2-Reduzierung zu halten.
Die beiden deutschen Energieriesen RWE und Eon - voller Aufbruchsstimmung - gründeten deshalb vor einem Jahr ein Gemeinschaftsunternehmen, das in England sechs Kernkraftwerke errichten und betreiben soll, falls es den Zuschlag bekommt. Doch inzwischen haben die Kaufleute der Konzerne einmal nachgerechnet, ob sich so ein Kernkraftwerk überhaupt bezahlt macht. Nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sind die Controller jetzt zu einem Ergebnis gekommen, das sich in dürren Worten so zusammenfassen lässt: ökonomisch nicht darstellbar.
Die schärfste Analyse liefert die Citibank, die nicht im Verdacht steht, Teil der Anti-AKW-Bewegung zu sein. Im November des vergangenen Jahres veröffentlichten Analysten der Citibank eine Studie unter dem knackigen Titel „New Nuclear - The Economics say no“ (Neue Kernkraft - Die Ökonomie sagt nein). Die Banker spießen unter anderem das finnische Projekt auf, um dann grundsätzlich zu werden: „Wenn bei Investitionssummen in dieser Höhe ein Bauprojekt aufs Schlimmste falsch läuft, kann es die Finanzkraft selbst der größten Energieversorger beschädigen.“
Zwei Risiken lasten besonders schwer auf geplanten Meilern: Der Baupreis und der Strompreis. Der Baupreis hängt von der Baudauer und den Materialkosten ab. Zeitverluste wie in Finnland wirken gravierend. Auf der Baustelle in Olkiluoto sind 4000 bis 5000 Leute beschäftigt, die rund 400 Euro pro Kopf und Tag kosten. So kostet jeder verlorene Tag zwischen 1,5 und 2 Millionen Euro, rechnet ein deutscher Energiemanager vor. Zeitverzögerungen sind Standard, selbst in Ländern mit weniger Auflagen und weniger sensibilisierter Öffentlichkeit.
Die globale Kostenexplosion wird von einer interdisziplinären Wissenschaftlergruppe der amerikanischen Eliteuniversität MIT bestätigt. Die Forscher sprechen von einer dramatischen Eskalation der Kosten sämtlicher großen Industrieprojekte, bei denen Ingenieurleistungen gefragt sind. Aber besonders schlimm sind die Kostenentwicklungen bei Atommeilern. Schwer kalkulierbare Kosten sind aber nur die eine Seite der Investitionsrechnung für Kernkraftwerke, die Erlösrisiken stehen auf der anderen Seite. In Märkten mit freier Strompreisbildung können die Betreiber von Reaktoren schlecht kalkulieren, was sie verdienen werden. Die Profitabilität hängt unter anderem stark von den künftigen CO2-Preisen ab - je teurer das Abgas, desto besser rentiert sich ein abgasfreies Kernkraftwerk in Konkurrenz zu Kohlekraftwerken. Billige Emissionsrechte stellen die Rentabilität der teuren Meiler dagegen in Frage. Das Hauptproblem bleibt, dass die Preise so schwer prognostizierbar sind. Börsennotierte Energieversorger scheuen das Risiko nahezu zwangsweise. Sie haben eines gelernt: Zuverlässig Geld bringen die Reaktoren erst nach 30 Jahren, wenn sie weitgehend abgeschrieben sind.
Das ist auch das geradezu groteske Ergebnis der Befreiung der Energiemärkte: Die Privatisierung der Branche und die Liberalisierung des Stromwettbewerbs verhindern den Bau aufwendiger Kraftwerke, vor allem aber von Atomkraftwerken. „Alle Modelle, bei denen ein privater Betreiber das komplette Risiko des Kernkraftprojektes übernimmt, sind zum Scheitern verurteilt“, verrät ein hoher Eon-Manager, der flapsig ergänzt: „Ohne Staatskohle keine Kernkraft.“ Kein Wunder, dass RWE jüngst aus dem Bauprojekt im bulgarischen Belene ausgestiegen ist, der deutsche Stromversorger wollte das finanzielle Risiko nicht aushalten.
Für die Atomindustrie sind die Erkenntnisse so neu nicht, weil noch nie in der Geschichte der Branche ein privates Unternehmen das komplette kommerzielle Risiko für Bau und Betrieb eines Atommeilers übernommen hat. Allerdings favorisieren gerade jetzt viele Regierungen, einschließlich der britischen, private Lösungen, weil ihnen spätestens nach der Finanzkrise das Geld für Kraftwerksinvestitionen ausgegangen ist. So beschränkt sich die Renaissance der Kernkraft auf Länder, in denen staatliche Betreiber oder Geldgeber das Risiko tragen. Die amerikanische Regierung hat jetzt Kreditgarantien in Höhe von 54 Milliarden Dollar für neue Atomkraftwerke budgetiert. Allerdings sind dort erste Pläne auf Eis gelegt worden wegen befürchteter Kostenexplosionen.
China, mit 20 Meilern im Bau, Vietnam und die Vereinigten Arabischen Emirate sind am weitesten mit ihren neuen Kraftwerksplänen. Viele andere Kraftwerke sind über das Blaupausenstadium noch nicht hinausgekommen. In Europa haben die Kraftwerksplanungen nach den Erfahrungen und Rückschlägen in Frankreich, Finnland und Bulgarien einen Dämpfer bekommen mit durchaus brisanten Folgen. Wie jetzt noch die versprochenen CO2-Einsparungen realisiert werden sollen, wird langsam rätselhaft.
Quelle: Winand von Petersdorff - F.A.Z.
... dokumentiert die Fallstricke der Atomindustrie; ... gehört zu «Media for Sustainability» des Ökonomen und Journalisten Guntram Rehsche (siehe auch http://guntram-rehsche.blogspot.com); ... Beiträge zeitlich geordnet, Stichwort- / Labelsuche in linker Spalte; ... Unterstützung mit Zahlung von 20 CHF auf Konto: Zürcher Kantonalbank / Guntram Rehsche / IBAN CH46 0070 0111 3009 63007 (für Zahlungen aus Ausland auch BIC (SWIFT-Code) angeben: ZKBKCHZZ80A) - Danke!
Samstag, 9. Oktober 2010
Von wegen Renaissance
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