Die europäischen Klimaschutzziele sind nicht gefährdet, wenn bestehende Atomkraftwerke nach und nach abgeschaltet und keine neuen mehr gebaut werden. Das ergeben Fallstudien sowie Szenarioanalysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), denen zufolge die Emissionsminderungsziele in Europa bei einem deutlichen Ausbau erneuerbarer Energien auch gänzlich ohne Atomkraft erreicht werden können. „Europa braucht die Atomkraft nicht“, sagt Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin.
„Deutlich gestiegene Investitionskosten für neue Atomkraftwerke, zunehmende Betriebskosten und ungelöste Fragen des Rückbaus und der Endlagerung machen die Technologie auch wirtschaftlich derart unattraktiv, dass es eine Renaissance der Atomkraft nicht gibt und auch nicht mehr geben wird.“ Vor allem die immer günstigere Stromproduktion aus Windkraft und Photovoltaik könne die Rückgänge bei der Atomkraft kompensieren. Kemfert - siehe Bild - wird kommenden Freitag, 13. November, auch am AEE-Kongress in Basel auftreten.
Die Energieexperten des DIW Berlin sprechen sich dafür aus, die Finanzierung des Rückbaus der Atomkraftwerke und der Entsorgung der radioaktiven Abfälle in Deutschland über einen öffentlich-rechtlichen Fonds zu sichern. Dieser Atomfonds könnte die Rechtsform eines Sondervermögens des Bundes oder einer öffentlich-rechtlichen Stiftung haben. Die Einzahlung der Konzerne könnte in Anlehnung an die Aufbauphase des Bankenrestrukturierungsfonds über acht bis zehn Jahre gestreckt werden.
Die Atomkraft ist in der westlichen Welt ein Auslaufmodell: In vielen Ländern ist der Ausbau beinahe zum Erliegen gekommen, schon heute gehen mehr Kapazitäten vom Netz, als neue hinzukommen. Der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Stromproduktion ist in den vergangenen 20 Jahren von 17 auf elf Prozent gesunken. Die meisten der weltweit betriebenen rund 400 Atomkraftwerke sind alt und müssen immer komplexere und teurere Sicherheitsanforderungen erfüllen. Neue Kraftwerke werden nur noch in wenigen Ländern gebaut, darunter China, Russland und Großbritannien (Hinkley Point). Die Projekte verzögern sich oftmals und sind letztlich teurer als geplant. „Noch nie ist auf der Welt auch nur ein einziges Atomkraftwerk ohne umfangreiche staatlichen Beihilfen gebaut worden“, erklärt DIW-Forschungsdirektor Christian von Hirschhausen. Verschärfte Rahmenbedingungen belasten zunehmend die Bilanzen der Atomkonzerne, die vor teilweise existentiellen Herausforderungen stehen.
Angesichts des auch deshalb bereits stattfindenden Wandels hin zu erneuerbaren Energien hat das DIW Berlin mit einem Strommarktmodell verschiedene Entwicklungspfade der Stromwirtschaft in Europa berechnet. Das Ergebnis: Im Szenario „Keine neue Atomkraft“ könnten im Jahr 2050 alle Atomkraftwerke durch einen massiven Ausbau der Windkraft und Photovoltaik sowie der Speicherkapazitäten ersetzt werden – bei gleichzeitig stattfindender Dekarbonisierung. Würde zusätzlich die Energieeffizienz deutlich steigen, wäre der Speicherausbau sogar weitgehend verzichtbar. In diesem Szenario („Keine neue Atomkraft & Energieeffizienz“) wären die Gesamtkosten, die unter anderem aus den Investitionskosten in neue Stromerzeugungskapazitäten und Netze sowie den Betriebs- und Erzeugungskosten bestehen, mit Abstand die niedrigsten. Doch auch im Szenario „Keine neue Atomkraft“ sind die volkswirtschaftlichen Kosten niedriger als für den Fall einer Laufzeitverlängerung alter Atomkraftwerke in Europa.
Wenn Atomkraftwerke stillgelegt werden, kommen hohe Kosten für den Rückbau auf die Energiekonzerne zu. Zudem müssen sie die Finanzierung der Entsorgung und Endlagerung der radioaktiven Abfälle sicherstellen. Obwohl ein vom Bundeswirtschaftsministerium veranlasster Stresstest im August dieses Jahres ergab, dass E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW für die Entsorgungsverpflichtungen einstehen können, bleiben die Energieexperten des DIW Berlin skeptisch: Die Konzerne verlieren an der Börse an Wert, zudem könnten sich schwankende Strompreise und weitere technische Herausforderungen in den Bilanzen niederschlagen. „Mit der Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Fonds sollte die Finanzierung dauerhaft gesichert werden“, sagt DIW-Forschungsdirektorin Dorothea Schäfer. Um die in Deutschland erwarteten Kosten bis zum Jahr 2099 decken zu können, wären zweistellige Milliardenbeträge nötig: Nimmt man einen – angesichts der aktuellen Niedrigzinsphase realistischen – Zinssatz von 1,5 Prozent an, müssten bis zum Jahr 2024 insgesamt 82 Milliarden Euro zusammenkommen. Bei einem Zinssatz in Höhe von 4,58 Prozent, den die Konzerne bisher für ihre Rückstellungen verwendet haben, läge das Zielvolumen immer noch bei 35 Milliarden Euro.
„Alternativen wie eine privat-rechtliche Stiftungslösung sind im Falle der Atomwirtschaft nicht geeignet“, sagt Rechtsanwältin und Co-Autorin Cornelia Ziehm und verweist in diesem Zusammenhang auf die finanzkräftige RAG-Stiftung, die die Ewigkeitskosten des Steinkohlebergbaus tragen soll. Selbst bei ihr bestünden erhebliche Risiken für die öffentliche Hand, auf den Kosten sitzen zu bleiben – und die zu erwartenden Kosten im Atombereich seien noch wesentlich höher. Bei der derzeitigen Praxis der internen Rückstellungen der Atomkonzerne bestehe die Gefahr, dass sich diese ihrer finanziellen Verantwortung durch Umstrukturierungen zumindest teilweise entziehen.
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Interview mit Claudia Kemfert (Print | PDF, 102.93 KB und Audio) | MP3, 4.37 MB
Quelle: DIW
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