Sonntag, 7. November 2010

Deutsches Anti-Atom-Spektakel

So ein Anti-Atom-Spektakel hat Deutschland lange nicht gesehen. Im Wendland spielen Polizisten und die Gegner der Castor-Transporte Katz und Maus. Die Strecke wird an vielen Stellen blockiert, Schotterer greifen immer wieder an - und mitten im Wald finden wilde Verfolgungsjagden statt.

Später Sonntagnachmittag in Lüneburg. Der Zug ist da. Endlich, werden sich die Polizisten denken. Er hat schon zehn Stunden Verspätung, er ist wieder mal aufgehalten worden, hinter Celle, weil sich Castor-Gegner an die Gleise gekettet haben - zwei Stunden hat das gekostet. Jetzt geht es weiter nach Dannenberg, die letzten 50 Kilometer auf dem Gleis. Die härteste Strecke, bevor die Castor-Behälter mit ihrer strahlenden Fracht auf Lkw umgeladen werden und es nach Gorleben weitergeht. Den Polizisten und den Anti-Atom-Aktivisten stehen heiße Stunden bevor. Rund 2000 Menschen blockieren bei Harlingen die Gleisstrecke Lüneburg-Dannenberg. Viele liegen mit Wärmedecken auf den Schienen. Andere tanzen, um sich warmzuhalten. Ein Mann rennt an der Böschung entlang, verfolgt von zwei Polizisten. Es gelingt ihm, auf einen Baum zu klettern, bevor die Beamten bei ihm sind. Schnell ist er weit oben. Jubel brandet auf. Dann Sprechchöre: "Abschalten! Abschalten!"

Landwirte eilen der Gleisblockade zur Hilfe. Dutzende blockieren mit ihren Treckern praktisch sämtliche Einfahrtstraßen nach Dannenberg. Damit wollen sie verhindern, dass die Polizei Einheiten zu Gleisabschnitten verlegt, wo Atomgegner die Bahnstrecke zu besetzen versuchen. Im Harlinger Ortskern stehen insgesamt zehn Traktoren ineinander verkeilt an zwei Kreuzungen - bis die Polizei die Blockade auflöst. Sie hat sich Generalschlüssel für alle Traktormodelle besorgt. Nach der Räumung der Kreuzung kann sie mehr Fahrzeuge losschicken.

Was in diesen Stunden im Wendland passiert, ist ein seit langem nicht mehr gesehenes Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Polizei und den Aktivisten. Hektik, Tricks, Gewalt - und immer wieder Durchbrüche der Protestierenden. Oder angebliche Durchbrüche? Am Abend wird die Information gestreut, Schotterer hätten in der Nähe von Pommoissel rund 150 Meter Gleisbett so zerstört, dass der Transport nicht problemlos durchkommen dürfte. Andere Aktivisten sagen, das sei nicht gelungen. Schottern ist der Protestbegriff dieses Castortransports; gemeint ist, dass Aktivisten Schottersteine aus dem Gleisbett graben, um den Zug zum Stopp zu zwingen.

Die Polizisten wehren die Protestierenden durchaus auch mit harten Mitteln ab. SPIEGEL ONLINE hat einen Einsatz am Vormittag bei Govelin miterlebt, in dem Schotterer erfolgreich abgewehrt worden sind - ein Protokoll:

Eine Schottergruppe aus mehr als tausend Aktivisten sammelt sich um acht Uhr in Govelin, einer Straße mit drei Häusern in der Nähe der Bahngleise. Viele tragen Regenjacken und haben einen Schal als Mundschutz dabei, die meisten eine Mütze. Sie wollen friedlich auf die Schiene gelangen, es ist keine uniform schwarz gekleidete Truppe gewaltbereiter Linksextremisten.

Im Laufschritt geht es mehrere Kilometer durch den Wald, immer den bunten Fahnen hinterher. Ein kleiner Polizeitrupp begleitet die Gruppe. "Da vorne an den Buchen rechts", sagt jemand über ein Megafon. "Du, Hippie", ruft ein Mädchen mit schwarzer Sonnebrille zurück, "was sind denn bitte Buchen?" Es geht auf einen Hügel hinauf. Diejenigen, die oben ankommen, jubeln, als sie die vielen hundert Demonstranten hinter sich sehen.

Auf dem Weg vor den Bahngleisen warten schon die Polizisten. Sie haben sich aufgereiht, die Visiere der Helme sind heruntergeklappt, die Hände umklammern Schlagstöcke. Als die ersten hundert Aktivisten auf die Strecke stürmen wollen, laufen ihnen Polizisten mit erhobenem Knüppel entgegen und prügeln drauf los.

"Dachs", "Dachs", ruft Anna Mahler. Es ist die Losung der Journalistengruppe, die von der 23-jährige Politikstudentin durch den Wald gelotst wird. Sie organisiert, dass Fotografen und Kameramänner zur Stelle sind, wenn es knallt. Dass man die Presse so einbettet, ist ein Novum in der traditionell argwöhnischen linken Szene. Mahler, die sich zur "Interventionistischen Linken" zählt, soll vermitteln, wenn es doch mal Stress geben sollte. Nun stehen Journalisten zwischen den Demonstranten und der Polizei, die nicht immer ganz genau hinschaut.

Aus dem Wald strömen immer mehr Aktivisten zu dem Waldweg, verteilen sich nach links und rechts. Sie starten einen zweiten Versuch, gehen einfach los - die Polizei schießt mit Reizgaskartuschen, setzt Pfefferspray und einen Wasserwerfer ein. Gasschwaden ziehen durch den Wald, mehrere Menschen müssen sich übergeben.

Viele der friedlichen Demonstranten sind froh, dass die Presse das rabiate Durchgreifen dokumentiert. Die Polizei rät dem ZDF im Pressezentrum in Dannenberg, das eigene Reporterteam doch lieber aus dem Wald abzuziehen - nur zur eigenen Sicherheit, versteht sich.

Weichen die Schotterer zurück, rücken Polizisten nach. Sie drängen die Demonstranten weit in den Wald zurück, wer nicht schnell genug ist, wird geschlagen und geschubst. Kampagnensprecher Tadzio Müller trifft ein Schlagstock mitten im Lauf am Knie. Er sackt weg, das Gesicht schmerzverzerrt.

Die Taktik der Polizei geht auf. Die Demonstranten werden immer weiter zerstreut. Ständig müssen sich die Schotterer neu sammeln, stehen aber so großflächig, dass an eine konzentrierte Aktion nicht zu denken ist. Die Sache zieht sich hin - während aus kleineren Gruppen Delegierte zu Sitzungen geschickt werden, in denen basisdemokratisch das weitere Vorgehen besprochen wird.

Die anderen stehen, hocken und sitzen im feuchten, kalten Wald. Einige waschen sich Pfefferspray aus den Augen. Ein Hubschrauber kreist direkt über der Szene, wirbelt Laubblätter in die Luft. Es klappt einfach nicht, auch nicht beim nächsten und übernächsten Versuch. Mit Pferden, die von Polizisten in die Menge geritten werden, und Schlagstockeinsatz wird die Gruppe wieder abgewehrt. Zwar schaffen es einige kleine Gruppen immer wieder mal ans Gleisbett, doch schottern können sie dann nur kurze Zeit - bis sie von den Einsatzkräften wieder verdrängt werden.

Mittags ist klar: Für eine der Gruppen fällt das Schottern erst mal aus, zu massiv ist der Polizeieinsatz, zu gut ist die Strecke gesichert. "Trotzdem ein Erfolg", sagt Müller, "auch wenn ich nichts schönreden will." Schließlich sei der Protest mit mindestens zweitausend Teilnehmern riesig gewesen.

Quelle: Spiegel Online

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